von Martina Hosse-Dolega
(Erster Teil des Interviews zum Thema "Abschied")
Dem Himmel so nah fühle ich mich seit den Ereignissen in den Jahren 1993 und 1994, die mich und mein Leben - und natürlich auch das meiner Familie - für alle Zeit prägten. Mein Lebenstraum, meine Wünsche, Träume und Hoffnungen endeten innerhalb eines Atemzuges. Mit Sehnsucht erwartet und doch viel zu früh lehrten mich meine Söhne Nico und Robin (Zwillinge) und Joshua das Leben.
Als ich meine Babys zum ersten Mal sah war ich überwältigt. Ich liebte sie, seit ich von ihrer Existenz wusste - doch als ich sie sah bekam diese Liebe Gestalt. Schläuche, Monitore waren unbedeutend - ich sah nur meine über alles geliebten Kinder. 4 Tage, 21 Tage und 39 Tage dauerte ihr Leben auf dieser Welt und doch lehrten sie mich das Wesentliche. Ich hoffte und betete - gemeinsam waren wir, die Eltern, fast ununterbrochen bei unseren Kindern. So unvorbereitet, so überwältigend, so schmerzlich, so unglaublich berührend, intensiv diese Zeit war ich erinnere mich und fühle es, als sei es gestern gewesen. Gesprochene Worte, gelebte Gefühle, Gerüche, Töne, Bilder - all das bleibt und überdauert die Zeit.
Das Team des Perinatalzentrums war immer an unserer Seite. Sie informierten uns behutsam, gaben Antworten auf alle unsere Fragen - tags und nachts. Sie berührten und berühren mein Herz fachliche Kompetenz verbunden mit Achtsamkeit und Empathie ihren anvertrauten Schützlingen und Eltern gegenüber. Warmherzig teilten sie selbst schwierigste medizinische Diagnosen mit - sie blieben immer Mensch.
Meine Söhne starben auf den Armen ihres Papas - bis zu ihrem Tod waren wir immer in ihrer Nähe. Der Tod kam leise und sanft - Worte, die mir schwer fallen mit dem Tod in Verbindung zu bringen und dennoch habe ich es so empfunden. Es war jedesmal ein stiller Moment, fast so, als hielte der Himmel den Atem an. Jede Faser meines Körpers schrie, jede Zelle rebellierte gegen das, was so gegen die Natur war und ist, gegen alle Lebenskonzepte: das Sterben von Kindern weit vor ihrer Zeit. Innerlich tobte es in mir, äußerlich fühlte ich mich wie in einer Schockstarre. Nichts existierte mehr - nur dieser Augenblick. Nach Tagen und Wochen ihres Kämpfens, nach schmerzhaften medizinischen Eingriffen, nach ihren ganzen Leben auf der Intensivstation - und seien die Menschen dort auch noch so liebevoll -, nach der Aussage, dass jegliche medizinische Unterstützung nicht den Tod verhindern könne, endeten dort unsere Leben, unsere Unbeschwertheit. Nicht jedoch diese unbeschreibliche bedingungslose Liebe, die Alles überlebt.
Seit diesen Momenten gibt es ein Leben davor und ein Leben danach. Der Tod eines Kindes vor dem Tod seiner Eltern fühlt sich so falsch an. In der Zeit des Sterbens blickte ich unweigerlich auch immer wieder auf die Monitore - ich hatte so große Angst, vor dem Sterben meiner Söhne, vor ihrem Tod. Fürchterliche Angst, weil ich nicht wusste wie sich der Tod zeigen würde, wie das Sterben aussehen würde. Was würde passieren, wenn das Herz aufhören würde zu schlagen? Irgendetwas musste doch passieren?! Das Leben konnte doch nicht "einfach" weiterlaufen - so als sei nichts geschehen. Würde die Welt anhalten? Würde ich mit meinen Kindern sterben? Immer wieder flüsterte ich meinen Söhnen zu, dass sie nicht mehr weiter kämpfen müssen. Worte, die mir so schwer fielen, sie auszusprechen - aber ich wollte, dass meine Babys in Frieden sterben. Ich wollte nicht, dass meine Traurigkeit und mein Schmerz ihr Leiden verlängert - wenn meine Kinder keine Chance auf Leben hatten.
Tränen liefen mir über's Gesicht - ich fühlte mich wie betäubt und war unglaublich dankbar, dass meine Söhne auf dem Arm ihres Papas lagen und all die Liebe fühlten, die sie die ganze Zeit ihres Lebens begleitete. Mein Herz ist voller Dankbarkeit für unsere gemeinsame Zeit und ebenso voll unendlicher Trauer, dass meine Babys nur ein viel zu kurzes Leben leben durften. Einige Erinnerungen tun so weh, dass mein Körper schmerzt. Andere Erinnerungen lassen mich lächeln und füllen mein Leben mit Hoffnung und Licht. Diese Erinnerungen sind das das Kostbarste, was ich besitze.
von Martina Hosse-Dolega
(Zweiter Teil des Interviews zum Thema "Abschied")
So still.... So unfassbar... So unbegreiflich...
Und genau in diesem Augenblick machte ich hautnah Bekanntschaft mit meiner Seele. Da, wo mein Geist, mein Körper nahezu handlungsunfähig wurde, übernahm meine Seele klar und mit erstaunlicher Zielstrebigkeit all jene Aufgaben, die es nun zu bewältigen galt. Wie von außen betrachtete ich "das Geschehen". Ähnlich wie ich mir das Leben in einer großen Seifenblase vorstelle, fühlte ich alles gedämpft, verlangsamt. Ich hatte offenbar die Kontrolle verloren... Über mein Denken, Fühlen und Handeln... Die Kontrolle über mich. Noch war mir diese Bedeutung nicht in vollem Umfang klar, doch ich hatte mich verloren... Die Person, die ich kannte, die mir vertraut war, deren Gefühle und deren Handeln für mich nachvollziehbar waren. Im Moment des Todes meiner Kinder starb zeitgleich die Person, die ich bis dahin war.
Doch viel schlimmer, viel unbegreiflicher war das, was meine Kinder erlebten. Wir, die Eltern - und sicherlich auch unsere Familien - waren sehr nahe davon berührt, zutiefst betroffen. Wir litten und weinten, wir waren Beteiligte dieses Erlebens, aber es waren unsere Kinder, die all das direkt durchlitten und durchlebten. Wir verloren nicht unsere Kinder - ich mag diesen Begriff nicht, drückt verloren für mich doch etwas völlig anderes aus: Was ich verliere kann ich suchen und wiederfinden und alles ist gut -, unsere Kinder starben und nichts war gut oder würde je wieder gut werden. Das, zumindest das, war mir absolut klar. Wir nahmen Abschied. Von unseren Kindern. Von ihren Körpern, die wir nie wieder sehen würden. Wir hielten unsere Kinder im Arm, küssten sie und betrachteten sie mit unserer ganzen Liebe. Wie zauberhaft sie aussahen, wie zart - so vollkommen. Und auch nach dem Tod - erstmals ohne den Beatmungsschlauch - waren sie für uns die wunderbarsten und schönsten Kinder - unsere geliebten Söhne. Jede Einzelheit, jede Besonderheit versuchten wir uns einzuprägen, um sie nie wieder zu vergessen und unser Leben lang zu erinnern.
Unsere Familien kamen ins Krankenhaus - auch sie nahmen Abschied .Das Team des Perinatalzentrums gab uns Zeit, begleitete uns, schenkte uns in unserer Trauer Raum. Sie boten uns jegliche Unterstützung an. Wir hätten unsere Kinder nach dem Tod waschen und anziehen dürfen - wir entschieden uns dagegen. Ich hatte zu große Angst. Wovor? Ich weiß es nicht genau. Vielleicht davor, es nicht ertragen zu können. Vielleicht aus Angst vor dieser Klarheit, dass meine Kinder wirklich tot sind. Vielleicht auch aus Angst vor den Gefühlen, die mich überfallen könnten. Sicherlich auch aus Angst vor dem Tod. Davor, dass ich dem Tod begegnen würde. Ich wollte das nicht. Ich wollte die Realität nicht Realität werden lassen. Ich wollte und konnte den Tod meiner Kinder - bei jedem Sterben - nicht wahrhaben.
Ich bin sehr dankbar, dass die wundervollen Schwestern der Intensivstation sich um unsere Söhne Nico, Robin und Joshua sorgten und kümmerten - auch nach deren Tod. Ich bin dankbar für die ganzen positiven Erinnerungen, die diese Schwestern und Ärzte uns schenkten und die mich auch heute noch begleiten. Wir machten Fotos unserer Kinder. Auch diese sind - noch heute - von unschätzbarem Wert. Sie bezeugen, dass es unsere Kinder wirklich gab. Auch der Fußabdruck unseres Sohnes Joshua auf einem Stern ist so wertvoll. Unsere Erinnerung ist dadurch so greifbar, so begreifbar - so real. Sie wird dadurch zu einem Teil unseres Lebens. Diese Erinnerung macht unsere Kinder auch jetzt noch sichtbar. Genauso verhält es sich auch mit den Socken, dem Mützchen, welches die Schwestern zu Weihnachten für alle Kinder der Station liebevoll gefertigt hatten (und mit denen sie uns Eltern ein Lächeln ins Gesicht zauberten und Erinnerungen schenkten) sowie dem kleinen Jäckchen, welches wir mit nach Hause nahmen.
Ganz anders als das wundervolle Team des Perinatalzentrums erlebte ich die Seelsorgerin. Sie betrat mein Zimmer mit den Worten, die ich auch nach 20 Jahren noch genauestens erinnere und die mich immer noch tief verletzen und wütend machen: „Ach, ihr Sohn ist ja heute gestorben... Ja, der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen...“ Ich weiß auch heute noch nicht, ob sie Hiobs Aussage wirklich fortgeführt hätte, wenn sie die Zeit dazu gehabt hätte. Denn dann hätte ich auch noch die Worte gehört "Der Name des Herrn sei gelobt!" Und obwohl diese Seelsorgerin diese Worte nie sagte, überdauert diese Aussage als schlechte Erinnerung alle Jahre. Das Wort Seelsorgerin traf nicht zu, denn ich hatte zu dieser Zeit nicht das Gefühl, dass sie sich um meine Seele sorgte, Mitgefühl zeigte oder mich unterstützen wollte.
Der Bestatter war irgendwie nicht präsent. Ich erlebte ihn als jemand, der nur „seinen Job macht“. Ich hatte nicht das Gefühl einer einfühlsamen Begleitung in dieser schwierigen Lebensphase. Es gab kaum etwas auszusuchen – bis auf die Blumen. Wir hatten nicht die Möglichkeit, unseren Abschied individuell zu gestalten. Nein, ich muss es anders formulieren: Wir wussten nicht, dass man Abschiede gestalten kann. Es gab keinerlei Information oder Anregungen darüber. Ich glaube mich zu erinnern dass es keinerlei Fragen seitens des Bestatters gab. Nein, es war nicht schlecht - es war "nur" nicht individuell und es war auch nicht "gut". Das weiß ich heute - damals wusste ich es nicht.
Sehr berührt hat mich die Begrüßung unseres Nachbarkindes, die vom Tod unseres Sohnes noch nichts erfahren hatte. Aber mit ihren 6 Jahren reagierte sie so klar, so liebevoll, offen und mitfühlend, dass ich auch jetzt noch von dieser Erinnerung berührt werde. Organisatorisch klärte sie "mal eben" das Wesentliche ab und bemerkte anschließend: "Ab jetzt muss in meinem Zimmer aber immer das Rollo oben bleiben, damit ich euren Kindern jeden Abend 'Gute Nacht' sagen kann und sie auch immer sehen kann... Denn jetzt sind Nico, Robin und Joshua ja wohl Sterne." Ein tröstender Gedanke von einem kleinen bezaubernden Mädchen, die den Kontakt zu uns nicht scheute und uns unterstützend zur Seite stand. Ich liebe sie dafür.
Die erste Zeit in unserem Zuhause - nach dem Tod - war schrecklich leer, einsam. Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Ich konnte mich nicht konzentrieren, meine Gedanken nicht sammeln. Kraft, Energie fehlte - alle Energiereserven hatte ich im Krankenhaus verbraucht. Schlaf fand ich nicht, Essen war unwichtig - vermutlich würde ich bis zu meinem Lebensende "einfach nur" liegen, denn zur Bewegung fehlte mir die Kraft, der Antrieb. Der Grund: Mir fehlte der Lebenssinn. Das Atmen funktionierte nicht mehr automatisch, so wie vorher. Ich konnte einatmen - aber irgendwie nicht ausatmen. Husten wurde mein ständiger Begleiter, um danach Luft einatmen zu können. Ich hatte seelische und körperliche Schmerzen. Ich brauchte Ruhe - nichts als Ruhe. Der Tod nahm mir meine Kinder, ich verlor mich und meine Orientierung. Ich verlor die Gegenwart und die Zukunft.
von Martina Hosse-Dolega
(Dritter Teil des Interviews zum Thema "Abschied")
Viele Formalitäten mussten erledigt werden. Nach Nicos Tod übernahm der liebevolle Papa meiner Kinder - gemeinsam mit den Omas - das Aussuchen des Ortes, an dem Nico beerdigt werden sollte.
Sie fanden diesen Platz - umrahmt von zwei großen Bäumen, die aussehen, als hätten sie die Kraft in den Himmel zu wachsen. Die Wurzeln dieser Bäume versicherten uns, dass es ausschließlich
"unseren Garten" dort geben würde. Ich hatte die Vorstellung, dass es eher ein Garten als ein Grab sein würde. Während des Aussuchens - so war es gedacht - sollte ich im Krankenhaus bleiben.
Robin sollte nicht alleine bleiben und der Kaiserschnitt war erst 3 Tage her. Meine Familie wollte mich schonen. Es fiel mir schwer im Krankenhaus zu bleiben, aber ich stimmte zu. Ich
vertraute, dass die Entscheidung, die wir getroffen hatten, richtig sei.
Auch jetzt noch bin ich überzeugt, dass wir gemeinsam keinen passenderen Ort hätten finden können. Ich bin dafür sehr dankbar, dass es diesen "Garten unserer Kinder" gibt. Es war und ist uns wichtig, dass es sich um Wahlgräber handelt, die ein Nutzungsrecht von 30 Jahren haben und die nachzukaufen sind. Es wäre für mich undenkbar gewesen, wenn der Ort unserer Kinder nur 15 Jahre dieser besondere Platz hätte bleiben dürfen (und nicht nachzukaufen gewesen wäre). Es ist so wesentlich, Eltern darüber frühzeitig und umfassend zu informieren: über Grabarten, Nutzungszeiten... Unvorstellbar, als junge Familie einen Ort zu haben, der über Jahre besucht wird und möglicherweise plötzlich nicht mehr da ist. Ich bin mir sicher, dass ich das hätte schwerer verarbeiten und verkraften können. Es hätte meine Trauerverarbeitung erschwert, möglicherweise verhindert.
Das verdeutlicht die Bedeutung und Wichtigkeit dieser Entscheidung, die in einer Zeit getroffen werden muss, in der Trauernde nur funktionieren, in der das Denken jedoch "Umwege läuft". Gerade in solchen Entscheidungssituationen bedarf es also einfühlsamen und fachlich kompetenten Menschen, die uns Trauernde unterstützen. Die anschließende Fahrt zum Bestatter und die entsprechenden Formalitäten erledigten wir gemeinsam. Den kleinen weißen Sarg wollten wir mit roten Rosen schmücken lassen. Wir vereinbarten, dass es keine Trauerfeier geben sollte. Die Verabschiedung sollte am Grab stattfinden - im engsten Familienkreis. Rückblickend würde ich vieles anders gestalten wollen. Mir ist aber sehr bewusst, dass es zu dieser Zeit ganz sicher nicht so möglich gewesen wäre, da die entsprechenden Menschen (ein beratender Bestatter und eine fachlich kompetente Trauerbegleiterin mit entsprechenden menschlichen Qualitäten) gefehlt haben. Mit Hilfe einer entsprechenden Unterstützung wäre eine Auseinandersetzung in Bezug auf einen individuellen Abschied und der Mut und das Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten sicherlich möglich gewesen. Mit meinem heutigen Wissen hätten wir die Beerdigung bestimmt nicht nur im allerengsten Familienkreis durchgeführt, sondern auch Freunden unserer Familien die Möglichkeit gegeben teilzuhaben. Durch den Ausschluss dieser Menschen haben wir uns zudem auch selbst Chancen beraubt: Die Chance mit diesen Menschen irgendwann später über unsere Kinder ins Gespräch zu kommen; die Chance, dass unsere Kinder besucht werden und sich mehr Menschen an die Geburtstag und Todestage von Nico, Robin und Joshua erinnern.
Menschen, die unsere Kinder niemals kennenlernen und auch nicht an der Beerdigung teilnehmen konnten, haben keinerlei Erinnerungen. Sie hatten keine gemeinsame Zeit. Für sie sind unsere Kinder noch weniger existent. Zu dieser Situation haben wir - in Unwissenheit – beigetragen. Leider.
Tröstlich haben wir erlebt, dass auch Menschen, die nicht zur Trauerfeier kamen an uns dachten - uns Karten, Briefe und Blumen zur Trauerfeier schickten. Ich bekam sogar Wachsmalstifte und ein Mandalabuch geschenkt. Heute weiß ich mehr denn je - Eindruck braucht Ausdruck. Das, was mich bewegt, das, was tiefe Spuren in meine Seele und in mein Herz gräbt, all das was eben Eindruck macht, benötigt eine Möglichkeit sich auszudrücken. Das Schreiben von Gedichten und Texten, die Malerei oder die Musik, das Gestalten - in jeglicher Form - hilft uns Menschen. Es entlastet und trägt wesentlich zur Trauerverarbeitung bei. Jeder Mensch hat Ressourcen. Es ist wichtig, uns diese bewusst zu machen - ganz besonders in Lebenssituationen, die "alles und noch viel mehr" von uns fordern.
von Martina Hosse-Dolega
(Vierter und letzter Teil des Interviews zum Thema "Abschied")
Unmittelbar nach der Beerdigung fuhren wir allein nach Hause. In ein Zuhause, das so leer schien. Mit einem wunderschön gestaltetem Kinderzimmer - für unsere Kinder – doch ohne Kinder. Auf
dem Weg zum Schlafzimmer fühlte ich physisch die Leere des Kinderzimmers. Es schmerzte so sehr. Mein Atem stockte, wie so oft in dieser Zeit. Meine Brust fühlte sich an, wie durch einen viel
zu engen Brustpanzer eingeengt. Mein Kopf war leer, mein Herz schien zu zerspringen. Ich legte mich ins Bett, starrte blicklos... Zeit und Raum verloren ihre Bedeutung.
Mein nahes Umfeld schien besorgt - tägliche Telefonate oder Nachrichten auf dem Anrufbeantworter zeugten davon. Ich wollte zu dieser Zeit weder reden, noch Kontakte, keinen Besuch. Viel mehr spukte mir durch den Kopf, warum ich überhaupt noch lebte? Mich erstaunte das. Wie war das möglich und warum? Nicht, dass ich an Selbsttötung dachte. Das tat ich nicht, denn ich dachte gar nicht. Alle Gedanken tauchten auf - ungelenkt und ohne Plan - und verschwanden wieder. Immer und immer wieder. Wenn ich die Augen schloss, sah ich immer ganz klar und nah die Augen meines Sohnes vor mir. Es fühlte sich so selbstverständlich an. Es beruhigte mich. Wir waren zusammen.
Mein nahes Umfeld war achtsam und unterstützte uns. Sie respektierten uns und unser Verhalten. Die weitere Umwelt reagierte weniger achtsam. Vielfach sicherlich durch Unsicherheit geprägt, hörte ich alle denkbaren Floskeln: von "Du bist ja noch jung und kannst noch viele Kinder kriegen" über "Sei froh, dass du die Kinder noch nicht zuhause hattest, dann wäre es noch schlimmer!" bis hin zu "Bestimmt ist es besser so. Wer weiß, vielleicht hätten die Kinder mit einer Behinderung leben müssen." oder "Besser jetzt, als später...“ Die mir gesagten Floskeln könnten Bücher füllen. Sie trösteten nicht. Sie verletzten.
Dann gab es noch die Menschen, die die Straßenseite wechselten, wenn sie mich sahen. Die, die beim Einkaufen abrupt und wortlos eine Kehrtwendung machten, sobald wir uns in einem Gang begegneten. Der Tod von Kindern stellt auch das Umfeld vor eine Herausforderung.
Zu all denen, die aus Unsicherheit bagatellisierten oder den Kontakt vermieden und zu den Personen, die tatsächlich weder über Mitgefühl, Anstand, Sozialverhalten, Achtung und Respekt vor dem Leben verfügen, gab es noch eine ganz besondere Art von Menschen: Menschen mit Herz, Seele und Verstand. Menschen, die der Tod unserer Kinder betroffen machte. Die aussprachen, dass ihnen Worte fehlen. Die achtsam zuhörten, was ihnen erzählt wurde - auch wenn ich es immer und immer wieder erzählte. Die ihr Mitgefühl in vielfältiger Weise zum Ausdruck brachten und in liebevoller Weise Anteil nahmen. Oftmals waren es Menschen, die in ihrem Leben ebenfalls bereits mit Trauer konfrontiert wurden. Diesen Menschen danke ich von Herzen. Ihre Worte - gesprochen und geschrieben - und ihr Handeln haben sich in meine Seele eingeprägt. Ich erinnere mich gerne daran.
Sehr hilfreich erlebe ich die Menschen, die zuhörten, was ich erzählen wollte. Die Menschen, die meine Kinder Nico, Robin und Joshua bei ihrem Namen nannten und nennen. Die mir dadurch signalisierten, dass ich das Recht habe um meine Kinder zu trauern. Die - auch, wenn für sie der Schmerz nicht erlebbar war - Verständnis für meinen Schmerz hatten, den Schmerz so stehenlassen und aushalten konnten und können.
Wertvoll waren für mich Eltern, die ich in der Selbsthilfegruppe kennenlernte. Erzählen, ohne erklären zu müssen und dennoch verstanden zu werden, ist so wohltuend. Hilfreich war und ist für mich Literatur.
Als besonders schlimm empfand ich es, dass es anscheinend nicht selbstverständlich ist, trauernden Eltern Wege und Möglichkeiten der Trauerverarbeitung aufzuzeigen und ganz konkrete Hilfen anzubieten. Das könnten begleitende Gespräche, Psychotherapie, das Kennenlernen von Entspannungsverfahren und Kuren zur Trauerverarbeitung sein. Ressourcen zu entdecken und zu nutzen und Resilienz zu fördern, ist sicherlich ein sehr guter Weg. Zudem ist es bestimmt ein günstigerer Weg als hinterher und viel zu spät zu versuchen, seelische und körperliche Schäden zu therapieren. Die möglichen Auswirkungen der Trauer - beim Tod eines Kindes - sind so immens, dass es ganz ohne Zweifel sinnvoll ist, einen Blick darauf zu richten. Hier sind sowohl der Gesetzgeber, als auch Krankenkassen, Kommunen und Ärzte gefragt.
Ausdrücklich betonen möchte ich, dass die Situation für Eltern und Familien beim Tod eines Kindes schon schwer genug ist - es Bedarf keiner Steigerung durch Ämter und Behörden! Ich wünsche
mir, dass sich die Menschen, die an entsprechenden Stellen arbeiten, sich dessen bewusst werden, sich entsprechend fortbilden, aber insbesondere über entsprechende Menschlichkeit
verfügen.
Von Herzen danke ich meiner Familie, meinen Freunden und den ganz besonderen Menschen, die für uns da sind und unsere Kinder Nico, Robin und Joshua geliebt und unvergessen in ihren Herzen tragen.
Wir danken Martina Hosse-Dolega für diesen Erfahrungsbericht im Rahmen unserer Interviews zum Thema "Abschied" während der Aktion Lichtpunkt 2014.
Sie arbeitet mittlerweile in einem engagierten Bestattungshaus, das ihr den nötigen Raum für die sinnvolle Begleitung der Trauernden zur Verfügung stellt. Darüber hinaus ist sie als Trauerbegleiterin und Entspannungs- & Gesundheitspädagogin sowie als Präventionsberaterin aktiv. Ihre Webseite ist derzeit im Aufbau. Sie können aber über uns oder per Mail direkt mit Ihr Kontakt aufnehmen.